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Über die Verfassungsreform in der Republik Belarus

03.01.2022 г.


In der Republik Belarus gilt die Verfassung vom 15. März 1994 mit Änderungen von 1996, 2004 und 2021.
 

Die aktuelle Verfassung hat eine bedeutende Rolle für den Aufbau des souveränen belarussischen Staates gespielt.
 

Gleichzeitig machen rasante Entwicklungen in allen Bereichen der belarussischen Gesellschaft sowie die Dynamik der geopolitischen Lage Erneuerung der Verfassung notwendig.
 

Der Prozess der Verfassungsreformen wurde in den letzten Jahren in mehreren Ländern auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion eingeleitet, darunter in Aserbaidschan, Kasachstan, Usbekistan, Russland. Die allgemeine Tendenz besteht darin, eine starke Staatsmacht aufrechtzuerhalten und eine dynamische wirtschaftliche Entwicklung sicherzustellen.
 

Der Präsident der Republik Belarus Alexander Lukaschenko hat die Möglichkeit der Verfassungsänderungen zum ersten Mal bereits 2016 öffentlich angesprochen, damit das Land den Anforderungen der Zeit gerecht bleibt. In den nachfolgenden Jahren kam er wiederholt auf dieses Thema zurück.
 

Vorschläge zur Änderung der Verfassung wurden bei der Vorbereitung zur VI. Allbelarussischen Volksversammlung im Rahmen von über 1,6 Tsd. Dialogplattformen landesweit vom Oktober 2020 bis Februar 2021 diskutiert. Mehr als 46,5 Tsd. Bürgerinnen und Bürger nahmen an der Diskussion teil.
 

Anfang 2021 wurde auf der Grundlage des Entscheids der VI. Allbelarussischen Volksversammlung eine Verfassungskommission gebildet, die sich mit der Ausarbeitung von konkreten Vorschlägen zur Änderung der Verfassung befasste. Anschliessend analysierte die vom Staatschef eingesetzte Expertengruppe die Vorschläge der Verfassungskommission, um sie untereinander abzustimmen und deren Kompatibilität mit der geltenden Gesetzgebung zu gewährleisten.
 

Als Ergebnis wurde ein Entwurf der geänderten und ergänzten Verfassung fertiggestellt und am 27. Dezember 2021 zur öffentlichen Diskussion vorgelegt. Der Text ist auf der Website des Nationalen Rechtsinternetportals https://pravo.by/novosti/novosti-pravo-by/2021/december/67984 ersichtlich.
 

Insgesamt wurden von 147 Artikeln der aktuellen Verfassung die Präambel (4 Absätze) und 80 Artikel mit über 160 Absätzen geändert oder ergänzt, 2 Artikel wurden gestrichen. Der Verfassungstext wurde um 11 neue Artikel und 1 neues Kapitel ergänzt (mit mehr als 50 neuen Normen). Bei Annahme der Änderungen wird der Text der aktualisierten Verfassung 156 Artikel enthalten.
 

Laut einer vor einem Monat in Belarus durchgeführten soziologischen Studie, unterstützen 58,7% der Bevölkerung die Verfassungsreform. Über 63% der Befragten gaben an, am Verfassungsreferendum teilnehmen zu wollen, das der öffentlichen Diskussion folgen wird.
 

Die Hauptrichtungen der vorgeschlagenen Verfassungsänderungen können wie folgt zusammengefasst werden.
 

Die Präambel wird ergänzt durch Bestimmungen zur Wahrung der nationalen Identität und Souveränität, kultureller und spiritueller Traditionen, einer sozial gerechten Gesellschaft.
 

Diese Bestimmungen sind eine Reaktion auf negative Tendenzen der Globalisierung: Abwertung der nationalen Souveränität, traditioneller Werte, einschliesslich Familie, Ehe, Beziehungen zwischen Mann und Frau, nationaler Kulturen sowie geistigen und historischen Erbes.
 

Die bisherigen Verfassungsbestimmungen betreffend die Grundlagen der Verfassungsordnung sowie die Festigung der Rechte und Freiheiten der Bürger (Abschnitte I und II der Verfassung) bleiben auch weiterhin grundsätzlich gültig und bedürfen keiner wesentlichen Korrekturen. Gleichzeitig wird vorgeschlagen, sie unter Berücksichtigung der eingetretenen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Veränderungen zu aktualisieren bzw. modernisieren.
 

Es wird vorgeschlagen, Normen in die Verfassung aufzunehmen, die auf die Bewahrung der historischen Wahrheit und der Erinnerung an den Grossen Vaterländischen Krieg und das Massenheldentum des belarussischen Volkes, die Erziehung zum Patriotismus abzielen (Präambel, Artikel 15 und 54).
 

Die grundsätzliche Position bleibt die soziale Ausrichtung der Staatspolitik im Rahmen der wirtschaftlichen Möglichkeiten des Staates. Die Arbeits- und Wirtschaftsgarantien, der Schutz der Eigentumsrechte, die Verfügbarkeit von Bildung, die Unterstützung jedes Bürgers bei der Wohnungssuche blieben unverändert. Besonderes Augenmerk wird jedoch auf die Vermittlung traditioneller Familienwerte gelegt, die Unterstützung von Familien mit Kindern, Waisen und ohne elterliche Fürsorge gebliebenen Kindern sowie von Jugendlichen, staatliche Alten- und Behindertenhilfe (Art. 32, 321, 47).
 

Eine ebenso wichtige verfassungsrechtliche Botschaft besteht darin, die soziale Verantwortung jedes Bürgers für sich selbst, seine Gesundheit und für seine Familie zu erhöhen sowie einen obligatorischen persönlichen Beitrag für die gemeinsame Sache zu erwarten (Artikel 21 und 45).
 

Angesichts des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts verpflichtet sich der Staat darüber hinaus, Rahmenbedingungen für den Schutz personenbezogener Daten und die Sicherheit des Einzelnen und der Gesellschaft bei deren Nutzung zu schaffen und die Einführung von Innovationen zum Wohle der Allgemeinheit zu fördern (Artikel 28 und 51).
 

Die Verfassungsänderungen betreffen auch die Gestaltung der Innen- und Aussenpolitik. Es wird hervorgehoben, dass Belarus eine militärische Aggression von seinem Gebiet gegen andere Staaten ausschliesst. Dies stärkt unseren Status als Staat, der eine friedliche Aussenpolitik verfolgt (Artikel 18). Gleichzeitig wird die Bestimmung über das Streben nach Neutralität aufgehoben, die den realen Gegebenheiten nicht mehr entspricht.
 

Mit der Inbetriebnahme des eigenen Atomkraftwerks ist Belarus dem Club der friedlichen Atomenergienutzer beigetreten. Daher ist die Verantwortung des Staates für die Entwicklung der friedlichen Kernenergie sowie die Gewährleistung der Sicherheit bei der Erzeugung und Nutzung der Kernenergie auf der Verfassungsebene verankert (Artikel 46).
 

Im Mittelpunkt der geänderten Verfassung steht das Gleichgewicht aller Staatsgewalten, die Konsolidierung eines Systems von Checks and Balances. Die aktuelle Situation bedarf neuer Lösungen, um das Risiko einer Stärkung (Schwächung) jeder von Staatsgewalten zu minimieren.
 

Der Entwurf formuliert Normen, die wesentliche Aspekte des Status, des Bildungsverfahrens und der Befugnisse der Allbelarussichen Volksversammlung definieren (Kapitel 31).
 

Die Allbelarussische Volksversammlung ist die höchste Form der direkten Demokratie, die sich in den letzten Jahrzehnten etabliert und bewährt hat. Dieses Gremium soll zum höchsten repräsentativen Machtorgan des Volkes werden, stabilisierende Funktionen in der Gesellschaft wahrnehmen und die Kontinuität und Stabilität des Systems der Regierungsorgane gewährleisten.
 

Die Verleihung der Allbelarussischen Volksversammlung eines verfassungsrechtlichen Status zeugt von der Entstehung eines originellen Modells der belarussischen Demokratie, das auf einer langen historischen Tradition beruht. Bürgerinnen und Bürger werden damit eine Möglichkeit bekommen, die wichtigsten Fragen des Staats- und Gesellschaftslebens unmittelbar zu diskutieren und zu entscheiden.
 

Die Allbelarussische Volksversammlung wird zum Garant einer erfolgreichen Transformation, indem sie gleichzeitig die weitere Entwicklung des wirtschaftlichen und politischen Systems und die Wahrung der nationalen Identität gewährleisten wird.
 

Die besondere Stellung der Allbelarussischen Volksversammlung wird durch die Beteiligung von Vertretern aller Staatsgewalten, kommunaler Körperschaften sowie der Zivilgesellschaft an seiner Tätigkeit ermöglicht. Dieser Ansatz eliminiert das Risiko einer Gleichgewichtsstörung im Staatsapparat. Eine auf demokratischer Grundlage gebildete Versammlung soll die wichtigste stabilisierende Kraft in den Beziehungen zwischen den Staatsorganen werden und dementsprechend über ausreichende Funktionalität verfügen, um verschiedene Arten von politischen Krisen zu verhindern.
 

Die Versammlung wird mit erheblichen Vollmachten und Befugnissen ausgestattet, darunter:

- die wichtigsten strategischen und Programmdokumente (Hauptrichtungen der Innen- und Aussenpolitik, Militärdoktrin, Konzept der nationalen Sicherheit, Programme der sozioökonomischen Entwicklung) gutzuheissen;

- Verfassungsänderungen und andere Gesetze zu initiieren;

- Durchführung eines republikanischen Referendums vorzuschlagen;

- Verfassung auszulegen und die Verfassungsmässigkeit normativer Rechtsakte prüfen zu lassen;

- die Legitimität der Wahlen zu prüfen;

- ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten einzuleiten;

- den Ausnahmezustand oder das Kriegsrecht einzuführen, falls der Präsident in diesen Fragen untätig bleibt;

- die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, Soldaten und andere Personen ausserhalb der Republik Belarus zu entsenden, um an der Verteidigung der kollektiven Sicherheit teilzunehmen und den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit zu unterstützen.
 

Zu den Befugnissen des neuen Staatsorgans sollen auch die Ernennung der Mitglieder des Verfassungsgerichts und des Obersten Gerichtshofs sowie der Zentralen Wahlkommission gehören. Dies ist ein Beispiel für die Übertragung eines Teils der Befugnisse des Präsidenten und des Parlaments.
 

Die Allbelarussische Volksversammlung wird Entscheidungen in den wichtigsten Anliegen treffen, die deswegen bindend sein müssen. Sie wird auch befugt sein, Rechtsakte staatlicher Organe und Amtsträger ausser Kraft zu setzen, sollten sie den Interessen der nationalen Sicherheit widersprechen.
 

Es ist vorgesehen, dass der Präsident auf der Sitzung der Allbelarussischen Volksversammlung eine jährliche Ansprache halten wird.
 

Die Arbeit der Allbelarussischen Volksversammlung wird von einem gewählten Präsidium mit dem Vorsitzenden an der Spitze koordiniert.
 

Die Amtszeit der Allbelarussischen Volksversammlung wird 5 Jahre betragen und die Sitzungen werden jährlich stattfinden. In der Zeit zwischen den Sitzungen wird die operative Lösung von Angelegenheiten, die in die Zuständigkeit des Gremiums fallen, durch das Präsidium übernommen.
 

Die Allbelarussische Volksversammlung soll nach Inkrafttreten eines Sondergesetzes zusammengesetzt werden (das Gesetzes wird voraussichtlich im Laufe des Jahres verabschiedet).
 

Wegen der weitreichenden Befugnisse der Allbelarussischen Volksversammlung ändern sich die Befugnisse anderer staatlicher Organe und Amtsträger, darunter des Präsidenten.
 

In Bezug auf das Amt des Präsidenten wird vorgeschlagen:

- Verschärfung der Anforderungen an Kandidaten: Erhöhung des Mindestalters von 35 auf 40 Jahre und der Mindestaufenthaltsdauer im Land vor den Wahlen von 10 auf 20 Jahre, Verbot der ausländischen Staatsbürgerschaft oder einer ausländischen Aufenthaltserlaubnis (Artikel 80);

- Einführung von Amtsdauerbeschränkung – maximal zwei Amtsperioden (Artikel 81);

- Vereinfachung des Amtsenthebungsverfahrens (neue Grundlage – systematischer oder grober Verstoss gegen die Verfassung) sowie Gewährung den Bürgern (mind. 150 Tsd.) des Rechts, dieses Verfahren einzuleiten (Artikel 88);

- Abschaffung des Präsidialdekrets als einer Rechtsaktsform – die rechtliche Regelung der wichtigsten gesellschaftlichen Verhältnisse erfolgt ausschliesslich durch Gesetze (Artikel 85, 101 und 142);

- Unterordnung der Präsidialerlässe den Gesetzen (Artikel 85);

- Ermächtigung des Präsidenten, Assistenten und Beauftragte für verschiedene Angelegenheiten zu ernennen, die eine besondere Aufmerksamkeit des Staates erfordern (Art. 84 Abs. 16);

- Festlegung des Status des Präsidenten nach dem Ende seiner Amtszeit – er kann zum Mitglied des Rates der Republik sowie zum Delegierten der Allbelarussischen Volksversammlung werden (Artikel 89, 892, 91).
 

Für Parlamentsmitglieder soll eine Amtszeit von fünf Jahren gelten (Artikel 93). Eine lange Parlamentssession anstelle von einigen Sessionen ist vorgesehen (Artikel 95). Die Abgeordneten erhalten neue Kontrollbefugnisse (Anhörung des Generalstaatsanwalts, der Vorsitzenden des Staatlichen Kontrollkomitees und der Nationalbank), sie werden aktiver an der Lösung aller wichtigen Staatsaufgaben beteiligt (Art. 97 und 98).
 

Ernennung zu allen Schlüsselposten, einschliesslich des Premierministers und des Vorsitzenden des Staatlichen Kontrollkomitees, wird vom Präsidenten nach vorheriger Zustimmung des Parlaments durchgeführt (Artikel 97 und 98).
 

Eine wichtige Änderung besteht darin, dem Vorsitzenden des Rates der Republik (das Oberhaus des Parlaments) die Befugnisse des Staatspräsidenten im Falle einer Vakanz dieses Amtes zu übertragen (Artikel 881), was die Stabilität und Kontrollierbarkeit in Notsituationen ermöglichen soll. Nach der geltenden Verfassung hat der Premierminister die Befugnisse des Staatsoberhauptes im Falle einer Vakanz auszuüben.
 

Der Entwurf konkretisiert die Befugnisse der Regierung und sieht bestimmte Änderungen in Bezug auf das System der regionalen und kommunalen Selbstverwaltung vor. Es sollen auch der Status und die Bedeutung des Verfassungsgerichts deutlich erweitert werden (darunter Prüfung von Beschwerden der Bürger über Verletzungen ihrer verfassungsmässigen Rechte und Freiheiten, wenn alle anderen Rechtsmittel ausgeschöpft sind).
 

Der Status der Zentralen Wahlkommission wird verfassungsrechtlich verankert und das Verfahren zur deren Bildung geändert. Gewisse Einschränkungen des Wahlrechts der Bürger werden aufgehoben.
 

Darüber hinaus klärt der Entwurf den Status und die Rolle gesellschaftlicher Institutionen (politischer Parteien und NGOs) im politischen System insgesamt und bei der Durchführung der Wahlen im Besonderen.
 

Es wurden auch Übergangsbestimmungen formuliert, um das Inkrafttreten der Verfassung zu gewährleisten, ohne dabei eine stabile Arbeit des Staatsapparats zu stören.
 

Die Arbeit an der Verfassung wird unter Berücksichtigung der Ergebnisse der landesweiten Diskussion der Änderungsvorschläge fortgesetzt werden.

 

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